Medizinprodukte: Europa ist viel zu abhängig geworden

© Apothekerkammer/ Christian Husar
Als dramatisch bezeichnet Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Apotherkammer, die Abhängigkeit Österreichs und Europas bei der Lieferung von Medizinprodukten. Sie fordert mehr Geld von öffentlichen Stellen und warnt vor zu viel Leichtsinn im Umgang mit dem Virus. 

 

Reed Exhibitions Österreich: Frau Mursch-Edlmayr, ist Europa zu abhängig geworden was Arzneimittel anbelangt?

Ulrike Mursch- Edlmayr: Die Pharmabranche steht im Zeichen des internationalen Wettlaufs um Arzneimittel zur Behandlung von Corona-Erkrankungen bzw. um einen Corona-Impfstoff. Die Branche befindet sich derzeit unter großem Innovationsdruck.

Zusätzlich zu den gewohnten Arzneimittel-Lieferproblemen hat die Coronakrise die Verwundbarkeit und Abhängigkeit Europas im Bereich der Beschaffung von Medizinprodukten dramatisch sichtbar gemacht. Diese Probleme werden sich weder rasch noch Österreich-spezifisch lösen lassen. Wir brauchen eine europaweite Pharma- und Medizinproduktestrategie, in der die globale Produktionsstruktur und Lieferketten resilienter gestaltet werden.

Gesundheit ist für Sie also eine öffentliche Aufgabe?

Mursch- Edlmayr: Gesundheit ist und bleibt persönliche Verantwortung und auch öffentliche Aufgabe. Gesundheit muss im Mittelpunkt öffentlicher Handlungen stehen, für gute Gesundheitssysteme muss entsprechend Geld in die Hand genommen werden.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation - haben wir es geschafft?

Mursch- Edlmayr: Die Maßnahmen haben gegriffen. Der Lockdown hat vielen Menschen das Leben gerettet. Die Corona-Infektionszahlen sind weiter rückläufig. Damit können wir zufrieden sein. Aber wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, weitere Wellen sind möglich. Die wichtigen Schlagworte sind Transparenz, Flexibilität, Hausverstand und Eigenverantwortung sowie Selbstbestimmung. Es geht um eine genaue Analyse der gemachten Erfahrungen und in der Folge darum, uns mit den neu gewonnenen Erkenntnissen selbstbewusst aufzustellen für die Zukunft, jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür. Das betrifft viele unterschiedliche Bereiche – vom IT-Management bis zum kommunikativen Element im Umgang mit den Menschen.

Welchem Credo folgen Sie?

Mursch-Edlmayr: Das Credo lautet jedenfalls: Was auch immer geschieht: Wir sind da für die Patientinnen und Patienten, Kundinnen und Kunden. Und wir bleiben da.

Wie schätzen die Apotheker Österreichs die wirtschaftliche Situation ein?

Mursch-Edlmayr: Gesellschaft und Wirtschaft werden sich nur dann vollständig erholen, wenn es uns gelingt, die Epidemie unter Kontrolle zu halten. Es ist eine leichte Stabilisierung der Lage eingetreten. Einige Betriebe befinden sich aber in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Am härtesten von der Krise getroffen wurden Apotheken in Einkaufszentren, gefolgt von Betrieben in Einkaufsstraßen und Tourismusregionen.

Was für Veränderungen im Kaufverhalten haben sich allgemein in den österreichischen Apotheken ergeben?

Mursch-Edlmayr: Die erste Phase war geprägt von Hamsterkäufen, gefolgt von einem Ausbleiben der Kunden. Ab Mitte März ließ sich zunächst ein kurzfristiger, starker Anstieg der Kundenfrequenz in den Apotheken beobachten, gefolgt von einem Einbruch im April und Mai als Folge des Lockdowns. Seit Juni ist eine langsame Zunahme der Kundenfrequenz zu beobachten. Die Verunsicherung der Menschen war und ist nach wie vor groß. Sie haben Angst, in Ordinationen und Apotheken zu gehen.

Stichwort Hamsterkäufe: Gibt es Überlegungen in der Kammer, wie man der Arzneimittel-Abhängigkeit gegenüber Asien begegnet?

Mursch-Edlmayr: Was wir gelernt haben: Bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln muss Hamsterkäufen durch überlegte Verschreibweise entgegengewirkt werden. Gesundheit ist öffentliche Aufgabe, das habe ich bereits zu Beginn gesagt.

Schlagwort Impfstoff gegen Corona. Aus Ihrer Sicht– wie lange denken Sie, dass es dauern wird, dass Arzneimittel bzw. Impfstoff auf dem Markt kommen werden?

Mursch-Edlmayr: Zur Coronatherapie sind internationale Studien am Laufen. Allerdings scheint es zurzeit zu wenige Patienten zu geben. Experten priorisieren eine Kombination aus mehreren Wirkstoffen, weil dadurch die Krankheit besser steuerbar sein könnte. Insgesamt laufen laut WHO mit Stand 24. Juni 2020 mindestens 153 Impfstoffprojekte. Konkret ist mehr als ein Dutzend hoffnungsgebende klinische Studien in Arbeit. Angesichts der notwendigen Zulassungsmodalitäten rechne ich mit einem Zeitraum von ein bis zwei Jahren, im Falle verkürzter Zulassungen kann es entsprechend schneller gehen.

Was meint die WHO zu diesem Thema?

Mursch-Edlmayr: Die WHO sprach unlängst von einem „lebensrettenden wissenschaftlichen Durchbruch“ beim Medikament Dexamethason. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA empfiehlt den Einsatz von Remdesivir.

Wie ging es Ihnen und Ihren Mitarbeitern mit dem direkten Kontakt mit den Kunden, mit der Überbelastung und der ständigen Gefahr angesteckt zu werden?

Mursch-Edlmayr: Es war keine Zeit, um an Ansteckung oder Selbstmitleid zu denken. Wir waren immer da, für uns stand ausschließlich die Versorgung im Fokus. Es wurde sofort im Sinne des Patienten- und Mitarbeiterschutzes reagiert, umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen wurden ergriffen.

Besonders zu erwähnen sind die Pionierarbeit der Apotheker beim Thema Spuckschutz durch Plexiglaswände, Abstandsregelungen in der Apotheke und Zutrittsregelungen zur Apotheke sowie umfassende Desinfektions- und Hygienemaßnahmen. Dazu kommen die eigene Produktion von Desinfektionsmitteln sowie das kontaktlose Rezept in der e-Medikation.

Wie wurde die Personalsituation bei Ihnen gehandhabt?

Mursch-Edlmayr: In personeller Hinsicht wurden zwei Teams gebildet, die keinerlei Kontakt zueinander hatten. Damit wurde sichergestellt, dass im Erkrankungsfall immer genügend Personal einsatzfähig ist. Das Dienstausmaß wurde entsprechend adaptiert. Generell lässt sich sagen: Das Krisenmanagement war getragen von starken und professionellen Teams.

Wird man auch in der Zukunft das Arbeiten in der Apotheke anders praktizieren?

Mursch-Edlmayr: Der bewusstere Umgang mit Hygienemaßnahmen sowie der Fokus auf Desinfektion werden beibehalten. Dasselbe gilt für das bewusste Abstandhalten zwischen den Personen, auch im Sinne von Respekt und Diskretion. Wir wissen: Die Situation ist relativ stabil, aber es ist noch nicht vorbei.

Vielen herzlichen Dank für die Beantwortung meiner Fragen.

Die Fragen wurden präsentiert von Bianca Schürz, Brand und Content Managerin